Wir haben jetzt also einen Stahlverdränger, was ganz was Feines, Marke Eigenbau.
Gekauft an einem frostigen Tag ruhte das Boot auf einem Trailerungetüm in der norddeutschen Marsch und ich fand das alles sehr abstrakt und wusste doch, realer wird es nicht. Nachdem das Boot über eine wackelige Leiter erklommen war, eröffnete sich ein Raumwunder und ich versuchte außerhalb meiner Komfortzone meine ersten zarten Visionen zu entwickeln, wie wir hier an Bord leben könnten. Der Außenbereich, oder nennen wir es mal seefraulich Deck, machte es mir leicht. Es gibt vier großzügige Ebenen und ich dachte sofort: Klasse, hier können ja gleich mehrere Menschen zusammen ihre Yogamatten ausrollen und ganz andere Dinge machen, als sich mit Schiffsmotor und Navigation zu beschäftigen. Dieses Kapitel findet in der Vision meines Mannes sicher nicht statt, zumindest nicht seine Teilnahme daran, sondern nur die Vorstellung, dass das toll für meine Wünsche ist. Nun ja, ich bin ehrlich: auch wenn er sich bisher erfolgreich gegen gemeinsames Yoga sträubt, bin ich absolut durchlässig für jedes ‘Nein’ seinerseits und denke mir, wenn ich nun bereitwillig mit in See steche, wirst du mit mir den morgendlichen Sonnengruß an Deck praktizieren. Beziehungskompromisse sind auch nach 20 gemeinsamen Jahren immer wieder neu zu finden!?

Nachdem wir nun das mehr als widersprüchliche Startkapitel abgeschlossen haben, begann der Winter. Unser Boot ruht weiter auf dem Trailer, ich auf dem Sofa und Olaf schwelgte in den sozialen Netzen der Binnenschiffer und belebte unsere Gespräche mit vielfältigen immer motivierenden Geschichten, um die Vorfreude auf unsere erste Bootssaison zu steigern.

Nun mag der ein oder andere denken: “Hey, es gibt wirklich Schlimmeres, als seine verfügbare Zeit mit seinem geliebten Menschen auf dem Boot zu verbringen!! Die Weite und Ruhe auf dem Meer und an der Küste zu genießen”. Ja, den Gedanken kann ich nachvollziehen, insbesondere, wenn es einen in seiner Freizeit ans Meer zieht. Aber: diesem Sehnsuchtswunsch sind wir vor fast 5 Jahren sehr spontan gefolgt, als wir für unser Umfeld sehr überraschend unsere schöne Wohnung in Hamburg St. Pauli aufgaben und an die Ostsee/ kurz vor Fehmarn aufs Dorf gezogen sind. Die Kinder waren alle aus dem Haus und wir dachten uns: drehen wir das Leben doch mal um und wohnen da, wo wir uns immer hin wünschen, wenn wir frei haben. Und nun leben wir 200 m vom Strand entfernt und der Weg zum Bäcker etc. führt am Strand entlang. Das kann ich nur empfehlen. Das Leben fühlt sich gut an so! Ich bin gern AM Meer und nicht ‘in’ oder ‘auf’ dem Meer.

In den langen Winterwochen sinnierten und philosophierten wir über die Gestaltung unseres Lebens mit Boot. Wie gesagt, wir brauchen keinen Camper und keinen Schrebergarten – und als solches habe ich Motorboote bisher eingruppiert. Also was machen wir daraus?

Die Namensfrage. Wie nennt man sein Boot? Der Vorbesitzer taufte das Boot auf seinen Spitznamen “Scholle”, so dass eine Neubenennung nahe liegt. Außerdem esse ich nix mit Augen oder Schale aus dem Meer und Scholle erinnert mich an panierte Grätenhaufen in touristischen Fischbratküchen. Also, ein neuer Name muss her.

Schaut man sich um, finden sich zahlreiche Palomas, Annegrets und Reginas auf dem Wasser. Irgendwie nicht unsere Welt. Das Boot als stolze Junggrosseltern nach der ersten Enkelin zu benennen fanden wir auch nicht passend.
Also überlegten wir – was das Boot für uns ist, was es erfüllen soll und was unsere Schnittmenge der Ideen ist. Mit unserem Umzug an die Ostsee arbeiten wir daran unsere bezahlte Arbeit immer flexibler und dezentraler zu organisieren. Dies erweitert sich nun um den mobilen Standort Boot. Wir sind der Fixpunkt unserer Arbeit und nicht die Arbeit legt ausschließlich fest, wann wir wo zu arbeiten haben. Die Mobilität des Bootes und die digitalen Freiheiten fingen an sich zu verweben und neue Ideen entstehen. Und auf einmal war es klar: unser Boot ist unser ANKERPLATZ.

Egal wo wir sind, wir haben unseren Lebensmittelpunkt dabei. Unterwegs sein und trotzdem präsent sein. Offen für Neues und Beständigkeit nutzen. Beweglich sein und trotzdem verwurzelt.

Wie sich das mit dem Verwurzeln auf dem Wasser verwirklichen lässt, mal abwarten. Im Augenblick fallen mir dazu nur im Wasser schwimmende Baumreste/Treibholz ein. Also doch besser verankert.